Storys

Erzgebirgsfritz und seine Eindrücke.

"Chemnitz brennt"3.3.2020. 1001




storys

Storys von Fritz. / stories from Fritz /


Es schreibt sich so zusammen - über Fritz, seine Heimat, aus ganz alten Zeiten und Fritz wagt einige Gedanken in die Zukunft.


70 Jahre teils heiter teils wolkig.


Sich der Kindheit wahrhaft zu
erinnern, das heißt: plötzlich und
ohne langes Überlegen wieder wis-
sen, was echt und falsch, was gut
und böse ist.

/Erich Kästner/








Zeit der Kindheit und Zeit der Jugend


Einmal hier, einmal dort

Die Mutti von Fritz lebte 1938 an der schönen Saar, in Mettlach. 1938 ist das Geburtsjahr von Fritz.

Am zwölften Tag des achten Monats des
eintausendneunhundertundachtunddreißigsten
Jahres erblickte Fritz im wunderschönen Erzgebirge das Licht des Planeten Erde.

Es ist Freitag, der 224. Tag des Jahres, und am Himmel zeigte sich der Mond als abnehmende Sichel.
Die Astronomen meinen, daß er ein Löwe ist.
Löwen sind gesellige Menschen, die imponierend auftreten und wissen, daß der Löwe der König der Tiere ist. Nach dem Chinesischen Horoskop ist er ein Tiger. Tiger sind hitzig und aufbegehrend, steht's zum Kampf bereit, tollkühn und verwegen.
Den Brief, der von seiner Geburt berichtete, beförderte die Post innerhalb Deutschlands für 12 Reichspfennig.
Die Zivilluftfahrt meldet die Aufnahme des Passagierdienstes zwischen England und Australien. Die Lufthansa setzt ihr Großverkehrsflugzeug auf einem Non-Stop-Flug Berlin-Kairo ein.
Hitler veranstaltete während des Staatsbesuches des ungarischen Admirals Nikolaus Horthy zu Ehren des Gastes eine Flottenparade mit 114 Kriegsschiffen auf der Kieler Förde.
Nach Geburt von Fritz wird die Schlagzeile erscheinen: "Nach dem Berufsverbot gegen die jüdischen Ärzte folgt nun auch Berufsverbot für die jüdischen Rechtsanwälte".
Ein besonderes Ereignis beleuchtete des Zeitgeschehen 1938: Der Reichskriegsminister Generalfeldmarschall Werner Blomberg und der Oberbefehlshaber des Heeres, Generaloberst Werner Freiherr von Fritsch, werden von Adolf Hitler abgesetzt.
Die Haarpracht der Damen wird immer länger. Die Haare werden im Nacken hochgenommen und auf dem Kopf zu einer Lockenkrone gesteckt. Das langbeinige Schönheitsideal wird nicht nur mit Hilfe der aufgesteckten Frisur, sondern auch durch die immer höheren Schuhabsätze unterstrichen.
Ein Einfamilienhaus, das am Tag der Geburt 39.378 RM kostet, wird 54 Jahre später 500.000 DM wert sein.
Ein Durchschnittsarbeitnehmer verdient 211 RM. Er wird im Jahre 1993 4.105 DM Arbeitsentgelt erhalten; oder auch nicht.
Der Diesel - PKW, Typ 260 D, von Mercedes Benz wird immer beliebter. Bei 94 km/h verbraucht er nur 11 l Diesel und kostet 6.800 RM. 54 Jahre später wird Mercedes als preiswertesten PKW einen 1,8 - Liter Wagen für 35.169 DM incl. MwSt. anbieten. Mit 109 PS /80 KW) fährt er 185 km/h schnell.

Wie Fritz wurden an einem 12. August u.a. 1930 Peter Weck, österreichischer Schauspieler und 1762 Georg IV. August Friedrich, englischer König geboren.

Fritz begann ein unruhiges Wanderleben.
Um das Licht auf unserem schönen Planeten Erde zu erblicken fuhr seine Mutter 1000 km von der Saar ins Erzgebirge. Dort besaßen die Großeltern ein Kino. Wahrscheinlich wegen der vertrauten Umgebung und der Geborgenheit wurde Fritz in Eppendorf geboren. Nach wenigen Wochen ging es mit dem Auto des Großvaters wieder an die Saar nach Mettlach.
Bis 1945 ist es auch recht turbulent zugegangen. Seinen ersten Geburtstag feierte er in Merzig-Brotdorf. 1941 war er in Bingen und soll dort im Rheinbad schon mit Hilfe seines Vaters geschwommen sein. Das ist wohl auch das Letzte, was er mit seinem Vater erleben durfte. Nur ein verblichenes Foto erinnert ihn heute an dieses Ereignis. Der Vater sollte bis zur Stunde Null aus dem Gedächtnis von Fritz entfernt werden. Daß dies nicht ganz so war, ist eine andere Geschichte. Eins weiß Fritz aber noch. Der Rhein war zugefroren! Die Fährschiffer hatten einen Weg über das Eis geebnet, und man mußte über den Rhein laufen. Warum, das weiß Fritz heute nicht mehr, aber er mußte über den Rhein. Mutti hatte ihm 10 Pfennig mitgegeben, und das reichte, um nach Rüdesheim und zurück trockenen Fußes über den Rhein zu laufen, auf die eine Seite und wieder auf die andere Seite.
Nun hatte Fritz damals schon eine Schwäche. Er aß für sein leben Gern Lakritze, an der Stange, das Stück für 5 Pfennige. Die 10 Pfennige wurden also gut in Lakritze angelegt und auf unebenem Weg ging es über den Rhein. Dabei gab es viele blauen Flecke und zerrissene Hosen.
Dann ist immer noch der Name Lorch im Kopf und ein sehr schöner Märchenhain. Beides hat Fritz nach der Stunde Null durch Zufall ein Stück nördlich, also Rhein abwärts gefunden. Auch da ging es vom Ort Lorch zum Märchenhain über den Rhein rüber und 'nüber.

Mutti war am Westwall. In dieser Zeit war Fritz im Nachbarhaus bei Onkel und Tante Saveoli und bei Frau Mulle. Auch hier ging es wieder rüber und 'nüber, von einem Haus in das andere. Da waren auch noch zwei Mädchen im Haus. Uta und Charlotte waren tolle Spielkameraden. Die Spiele waren oft realistisch. Im Kindermund hört sich das so an;

Vater und Mutter spielen
Moritz sagt zu Lieschen: "Komm, wir spielen Vater und Mutter!" "Ach - schon wieder streiten?"

Bei Fritz ging es etwas anders zu. Charlotte war ein Jahr älter und spielte die Mutter. Uta war ein Jahr jünger und war das Kind. Fritz war der Vater; und da geschah es wie aus heiterem Himmel. Charlotte hob eine Spielzeugschippe und schlug diese Fritz auf den Kopf mit den Worten: " - und Vater ist im Krieg und tot". Es tat weh. Frau Mulle, als ausgebildete Krankenschwester, half, und Fritz war mit dem Schrecken und einer großen Beule davongekommen. Es waren schon seltsame Spiele, die da gespielt wurden. Wer konnte am schnellsten zählen, wenn die großen ausgerichteten Dreiecke am Himmel flogen. Diese Dreiecke setzten sich aus vielen Flugzeugen zusammen, die gemächlich und mit Gebrumm dahineilten.

Ostern 1944 gab es eine schöne Zuckertüte. Mutti hatte sich viel Mühe gegeben. Aus eingetauschtem Zucker und Fett wurden im Tiegel Bonbons gemacht. Weiße Kniestrümpfe, kurze schwarze Hosen und was noch alles so sein mußte, waren wohl auch in der Zuckertüte. Die Schule begann, aber nur für wenige Tage, denn da ging es wieder auf die große Reise ins Erzgebirge. Hier ging es in eine neue Schule, und Mutter erlernte einen Beruf. Beim Großvater von Fritz erlernte sie den Beruf eines Filmvorführers. Das sollte wohl so ein Jahr dauern, und da kam der 8. Mai 1945 dazwischen. Auch so eine Stunde Null.
Aber weiter zum hin und her. Mutti versuchte es noch zweimal mit Fritz an der Hand. An einer Grenze wurde gewartet und gewartet, um wieder an die Saarschleife in das eigene Haus zu kommen. Einmal war eine große Brücke vor ihnen und etwas später, die Grenze durch Deutschland war wohl verschoben worden, saßen sie auf einer großen Wiese. Viele Menschen saßen mit viel Gepäck auf dieser Wiese.
Fritz hatte Hunger und Mutti war gerade nicht zu sehen. Hinter einem Zaun bemerkte Fritz Beeren und er fand ein Loch im Zaun. Da waren aber noch mehr Beerensträucher an einem Weg. Der war lang und auf einmal wußte Fritz nicht mehr, ob es nach rechts oder nach links weitergeht. Da kam ein Mann, und der brachte Fritz zu einem Soldaten in einer schicken Uniform. Dieser wiederum brachte Fritz zu einer Schwester mit einer großen Haube. Die beiden liefen mit Fritz eine lange, leere Straße entlang. Rechts und links waren nur Felder. Am Ende der Straße war ein Balken über der Straße mit roter und weißer Farbe angemalt. Dahinter befanden sich sehr viele Menschen, und da sah Fritz die Mutti. Sie waren beide froh, sich gefunden zu haben. Fritz wurde über den Schlagbaum gehoben und - er war wieder drüben, oder hüben oder wo? Es ging wieder zurück. Später hörte Fritz, wie Mutti sagte, ihr Zuhause wäre jetzt in Frankreich.
Das hin und her durfte erst nach der Stunde Null weitergehen. War Fritz ein Deutscher oder ..., oder ein Franzose? Bestimmt aber ein Europäer!












Ein Witz von Fritz und ein Wendehals.

Fritz war zu Anfang seiner Schulzeit ein unaufmerksamer Schüler. Es gab oft allerlei Gründe, ihn zu tadeln. Schöner war da die schulfreie Zeit. Fritz verbrachte sie mit Kühe hüten, Kartoffelkäfer suchen, Streifzügen im Wald, und da war noch die Fundmunition, alles tausend mal besser als Schule. Der erste Lehrer war auch nicht nach dem Geschmack von Fritz. Nicht nur, daß er ziemlich alt war, er war auch überaus streng. Und das bekam Fritz zu spüren, als er im Unterricht in einen Apfel biß. Den Apfel hatte er, welch ein glücklicher Zufall, wo es so wenig zu Essen gab, gefunden, und nun konnte er es nicht abwarten. Was heißt abwarten, er hatte Hunger. Erwischt war erwischt. Fritz mußte beide Hände vorhalten, die Finger gestreckt mit den Fingerspitzen nach oben. Der Lehrer nahm ein Lineal, und dieses sauste auf die Finger von Fritz.
Das Schönste an der Schule war, daß oft kein Unterricht war. Dafür heulten öfter die Sirenen, auch nicht schön, aber laut. Statt in die Schule zu gehen, durften Fritz und die ganze Klasse am Abend in einer Fabrik auf den Lederballen und Papierhaufen hocken und dem Lehrer zuhören. Sein Opa sagte zu Fritz, das wäre wegen der Restwärme. Die ökonomische Bedeutung dieses Wortes begriff Fritz erst viel später. Er begriff aber wenigstens!

Nach einer viel zu kurzen Zeit, in der Fritz nicht in die Schule brauchte, da viele weiße Fahnen die Fenster im Dorf schmückten und man nicht auf die Straße gehen sollte, ging er nun doch wieder in die Schule. Es waren noch die alten Mauern aber ganz andere Lehrer.
Es war der erste Schultag nach der langen Unterbrechung wegen der weißen Fahnen und der Kapitulation, wie sich Opa ausdrückte. Fritz hatte jetzt eine recht junge Lehrerin, die versuchte, ihm etwas beizubringen. Viel später erfuhr Fritz, daß die Lehrerin den Lehrstoff noch am Vorabend selbst erst erlernt hatte, aber zu diesem Zeitpunkt, als Fritz das erfuhr, war es schon selbst ein studierter Mann und wenige Jahre vor der Stunde Null.
Zurück zur Lehrerin. Es war Rechenstunde. Fritz hörte die Lehrerin fragen: "Nun schätzt einmal, wie hoch ist unsere Schule?" Fritz überlegte gerade, warum die Lehrerin unsere Schule gesagt hatte, als er merkte, daß er aufgerufen war. Er war ärgerlich und antwortete recht trotzig: "Einen Meter und zwanzig..., also einen Meter und ein Stück", ihm fiel nicht ein, wie der Rest über dem Meter hieß, "Frau Lehrerin" sagte er schnell noch. "Aber Fritz, wie kommst du auf einen Meter und zwanzig Zentimeter, hast du dich da nicht in einer Kommastelle vergriffen"? Immer diese geschwollenen Ausdrücke, dachte Fritz und antwortete recht erbost: "Ich bin einen Meter und dreißig Zentimeter groß und die Schule steht mir bis hierher!" Dabei zeigte er mit der Handkante bis unter sein Kinn. Die Klasse tobte und die Lehrerin schrie: "Raus, vor die Tür...!" den Rest verstand Fritz nicht mehr und er zischte ab.

Fritz stand immer noch vor der Tür, als der Direktor vorbeikam. Der Direktor und Fritz kannten sich. Der Herr, oder sagte man schon Genosse? Fritz weiß es heute nicht mehr, also der schaute Fritz an und sagte: "Der erste Schultag und Fritz steht schon wieder vor der Tür, warum denn diesmal"? Die Hände an die Hosennaht gedrückt, denn so wollte es der neue Direktor vor kurzer Zeit noch, ein Kniestrumpf oben, der andere war runter gerutscht, in den viel zu großen Schuhen aus rotbraunem damals so genannten Ikelit, die breiten Hosenträger, die zu lang wirkenden kurzen Hosen, die aus Opas altem Militärmantel aus dem ersten Weltkrieg von der Mutter genäht waren, und eine Klemme im Haar, welche die störrischen Haare so schön glatt festhielten, so stand Fritz vor dem Direktor. Er sagte wahrheitsgemäß: "Wir haben Rechnen, und da habe ich mich beim Schätzen um eine Kommastelle vergriffen sagt die Lehrerin". "Das macht nichts", sagte der Direktor, "da ich etwas Zeit habe, wollen wir doch gleich etwas üben. Schätze doch einmal, wie alt ich bin"? Fritz schaute den Direktor von oben bis unten an und fing an sich zu ärgern.

Wie gesagt, beide kannten sich. Der heutige Direktor wohnte im gleichen Haus wie Fritz mit der Mutter, den Großeltern mit dem Kino und einer Tante, die auf ihren Mann wartete mit zwei Buben. Der heutige Direktor wohnte Parterre und betrieb einen Kolonialwaren Laden, den Opa ihm einmal gegeben hatte. Früher hatte Opa dort Kaffe geröstet und an Kinobesucher verkauft, oder so. Der Direktor trug damals immer eine schwarze Uniform. Wenn Fritz ganz ängstlich im Luftschutzkeller an die Mutter geklammert dahockte, war der Mann in der schwarzen Uniform auch immer da. Oft krachte es draußen und die Leute erzählten, daß der Himmel rot vom Feuerschein sei, und Chemnitz würde brennen. Es war der 5. März 1945. Als die Tür einen Spalt geöffnet wurde, konnte Fritz sehen, wie der Himmel wirklich rot leuchtete. In diesem Moment schrie der Mann in der schwarzen Uniform: "Türe zu, oder sollen uns die Flugzeuge sehen!?" Er sagte auch andere Dinge. Etwas hat sich Fritz gemerkt: ... durchhalten oder Endsieg, oder beides, oder so". Eines Tages war die ganze Familie in Aufregung. Es war kein Alarm, aber irgendwas erregte alle. Man hörte Gepolter, als würden Türen eingeschlagen und Glas klirrte. Nach einiger Zeit pochte es an der Vorsaaltür. Komisch, dachte Fritz, wo wir doch eine Klingel haben. Es hörte sich fast an, als ob der Weihnachtsmann anklopfe, so energisch. Fritz war bis aufs äußerste gespannt. Drei Männer stürmten in das Wohnzimmer. Einer hatte eine zerknitterte Uniform an, ein kleiner und ein großer Mann hatte jeder eine rote Binde am Arm. Fritz wunderte sich. Der große Mann mit der roten Binde am Oberarm war doch aus unserem Haus. Ja, es war der, welcher fast immer diese schwarze Uniform trug. Jetzt hatte er eine Jacke aus Leder angezogen, eine flache Mütze auf dem Kopf und eben diese rote Binde am Oberarm. Soviel Fritz verstand, wollten diese Männer einen Schlüssel. Opa sagte immer nein, denn sie seien eingebrochen und hinterher würde er keine Schlüssel rausgeben. Alle redeten durcheinander. Den Mann in der zerknitterten Uniform konnte Fritz gar nicht verstehen. Da wurde es auf einmal ganz still. Nachdem der kleine Mann sehr laut geworden war, trat diese Stille ein. Opa griff ganz langsam zum Schreibtisch, zog zitternd das rechte obere Fach auf und gab ganz langsam dem kleinen Mann den Schlüssel. Der hatte eine Pistole auf Opas Brust gesetzt. Der kleine Mann gab den Schlüssel dem Soldaten, und alle stürmten aus dem Wohnzimmer. Eine ganze Zeit durfte Fritz nicht mehr die bewegten Bilder im Kino ansehen. Später durfte er es wieder. Zuerst saßen immer nur die Soldaten im Kino. Es stank und war sehr neblig und die Sprache aus dem Lautsprecher verstand Fritz auch nicht. Später kamen auch wieder die Leute aus dem Dorf, oft sehr viele, um sich schöne Bilder anzusehen.
Einige Wochen nach dem Ereignis mit der Pistole fand Opa beim Leeren der Jauchegrube eine schwarz Uniform, einen Gürtel aus Leder mit einer Tasche, in der auch eine Pistole war und einen Helm. Den Mann in der ehemaligen schwarzen Uniform hatte Fritz erst im Wohnzimmer und später in der Schule gesehen. Jetzt stand er vor ihm. Der neue Direktor.

Der Direktor riß Fritz aus seinen Gedanken, den ärgerlichen und wiederholte: "Nun schätze, wie alt bin ich"! Mit zornigen Augen sah Fritz den Direktor von unten an und sagte sehr kurz: "44" und nach einer kleinen Pause etwas mit Nachdruck, "Herr Direktor". "Nun gut", sagte der Direktor etwas hinterlistig, "Etwas übertrieben, aber nun das Wichtigste beim Schätzen, wie hast du das gemacht"? Etwas trotzig und sogleich schelmisch sagte Fritz sehr schnell: "War ganz leicht. Bei uns im Hause wohnte ein schwarzer Mann von 22 Jahren, der war ein Halbidiot". Ein Glück, daß es in diesem Augenblick klingelte und alle aus dem Klassenzimmer gestürmt kamen. Zu diesem Vorfall hatte Fritz nie wieder etwas gehört. Das war etwas verwunderlich.
Fritz hatte die Sache zumindest in der Folgezeit vergessen, als nach zwei Jahren die Rache des Direktors kam. Der hatte eine Vertretungsstunde, denn die junge Lehrerin war oft nicht da und es war recht langweilig. Auf einmal holte der Direktor Fritz an die Tafel und sagte er soll das Wort D-Zug anschreiben. Ob die Bitte des Direktors wirklich so ehrlich gemeint war, sei dahingestellt. Fritz überlegte. Tee kannte er und einen Zug kannte er auch. Im Ort fuhr einer, aber alle Leute sagten nur Bimmelbahn. Diese Bimmelbahn war eines der größten technischen Wunder, die Fritz zu dieser Zeit kannte. Zuerst hatten sie noch ein Radio und ein Auto, aber eines Tages mußte Opa alles abgeben. Viel später war auch die Bimmelbahn eines Tages verschwunden. Aber was war mit dem Tee? Den wußte Fritz nicht einzuordnen. Er riß sich zusammen und schrieb TEEZUG an die Tafel. Der Direktor lachte und die Klasse lachte mit. Es war also falsch, aber wie schrieb man diesen komischen Zug. Der Direktor sagte, Fritz soll es mit einem Bindestrich versuchen. Fritz glaube damals dem Direktor noch, also schreib er schnell mit Bindestrich TEE - ZUG. Das Lachen ging in ein Grölen über und Fritz glaubte, daß er das Spiel des Direktors begriffen hatte. Fritz schrieb weiter, und die Klasse grölte. Er hatte Spaß daran und wollte das Wort gar nicht mehr richtig schreiben. Er hatte Glück, das richtige Wort schrieb er nicht. Nach acht Schuljahren durfte Fritz nicht weiter in eine andere Schule gehen. Ob da auch der Direktor seine Hand im Spiele hatte? Nach der Stunde Null war der Direktor steinalt, aber noch am Leben. Durch Zufall kam Fritz an dessen Wohnhaus vorbei. Da hingen zwei Fahnen aus den Fenstern. Eine hatte die Farbe weiß/grün und die andere Fahne leuchtete in den Farben von Deutschland. Natürlich mit dem stolzen Adler.

Fritz dachte bei sich. Wenn man heute von einem Wendehals spricht so kann das doch auf den ehemaligen Direktor nicht so richtig zutreffen. Ihm müßte schwindlig werden vom vielen drehen, und sein Hals sollte wie ein Korkenzieher aussehen.








LSR


Es gab bis 1945 Abkürzungen, die man heute nicht mehr kennt. Eine dieser Abkürzungen stand in allen Orten Deutschlands an Hauswänden, besonders neben Kellerfenstern. Damals wußte jeder, was sich hinter diesen Buchstaben LSR verbarg.

" Luftschutzraum".

Hinter dieser Aufschrift war ein Raum, der den Bomben widerstehen sollte. Wenn die Sirenen heulten, rannten alle in Richtung dieses Zeichens und verschwanden in den nahen Eingangstüren.
Der Großvater von Fritz und viele andere sagten aber leise und hinter vorgehaltener Hand zu den Buchstaben LSR.

"Lerne schnell russisch".

Als Fritz auf der Straße dieses "Lerne schnell russisch" einmal laut sagte, bekam er einen kleinen Klaps auf den Mund. Da wußte er, daß man das nicht sagen durfte. Dieses LSR sollte Fritz aber noch lange, wahrscheinlich für immer, anhängen.

In der Schule muß man lernen. Das war 1945 nicht anders als heute. Einiges war doch anders, einiges auch komisch. Für Fritz gab es eine ganz besondere Begebenheit. Der Großvater achtete darauf, daß immer gute Noten nach Hause gebracht wurden. Wenn Fritz eine schlechte Note nach Hause brachte, dann herrschten recht strenge Sitten. Über die Strafe für schlechte Noten soll hier nicht gesprochen werden. Sie waren auf jeden Fall für einige Zeit einprägend. Nur im Fach "Russisch" war das ganz anders. Wenn Fritz eine schlechte und zunehmend auch sehr schlechte Noten zu Hause vorzeigen mußte und es sich um russisch handelte, kann sich Fritz noch an einen Ausspruch des Großvaters erinnern, der sinngemäß sagte: "Der Junge macht es richtig - der zeigt uns, wie man es machen muß - jeder sollte es so machen - , ... ." Großmutter sagte nichts, aber sie lächelte. Mutter sagte höchstens, daß Fritz doch etwas besser sein könnte, aber auch das klang wie eine Belobigung im Gegensatz zu Maßnahmen bei schlechten Noten in anderen Fächern. Diese Differenz im Notenspiegel vom Fach Russisch zu den anderen Fächern begleitete Fritz sein Leben lang, auch wenn die Endnote im Fach Russisch an der Finanzfachschule Gotha eine 2 wurde. Viele Geschichten könnte man erzählen, die alle mit der russischen Sprache zu tun haben, so ein Versuch als Dolmetscher in Rußland, der gar nicht so schlecht ausfiel, oder die Angst vor einer Prüfung, die zum Umsteigen in einen anderen Zug führte, oder ein Schnellkurs vor der Prüfung mit ganz anderen Methoden, egal, ohne die Buchstaben LSR und dem Großvater wäre Fritz dies alles nicht mit solchen Auswirkungen passiert.